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Antichrist – Genialer Film oder Mist?

Dienstag, 3. November 2009

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Originaltitel: Antichrist
Herstellungsland: DEN 2009
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Willem Dafoe

Seit seiner Premiere beim Filmfestival in Cannes 2009 sind zahllose Artikel über Lars von Triers´ „ANTICHRIST“ verfasst worden. Wie so oft stößt der dänische Regisseur die Zuschauer vor den Kopf - diesmal vor allem mit der Theorie, dass nicht Gott, sondern Satan die Welt geschaffen habe -, weshalb die Kritiken und Meinungen weit auseinander gehen: Die einen finden seinen neuen Film ekelhaft und abstoßend, andere werfen ihm Frauenfeindlichkeit und Egomanie vor oder bezeichnen ihn als „selbstverliebtes und prätentiöses Machwerk“, während wieder andere ihn in den höchsten Tönen loben und „ANTICHRIST“ für den wichtigsten Beitrag des diesjährigen Festivals halten. Aber kaum jemand scheint in der Lage zu sein, den filmischen Gewaltakt in seiner Gesamtheit zu verstehen und zu würdigen. Diejenigen, die ihn loben, fühlen sich gleichzeitig verpflichtet ihn zu verurteilen, während diejenigen, die ihn in Grund und Boden verdammen, den Film zugleich für unvergesslich halten. „ANTICHRIST“ ist ein (Alp)Traum auf Zelluloid, der dem Betrachter von der ersten Einstellung an einiges an Aufmerksamkeit und Verständnis abverlangt.copyrightjps

„ANTICHRIST“ wurde und wird als Horrorfilm etikettiert, aber das ist wahrscheinlich falsch. Es gibt an dem Film einfach zu vieles, über dem ein Hauch von Un- oder Überwirklichkeit und Unwägbarkeit schwebt. Man kann sich in seiner Einschätzung des Werkes nie ganz sicher sein. Ich bin mir selbst nicht ganz sicher, ob ich den Film überhaupt mag. Aber immer, wenn ein Werk einen dermaßen bleibenden Eindruck hinterlässt, verdient es eine gewisse Wertschätzung. Also was ist „ANTICHRIST“ eigentlich? Zuerst ist es ein Arthouse-Film – ein zuweilen sperriger, kompromissloser Film über tief sitzenden psychologischen Horror, über Glauben und Emotionen. Dann eine Mischung aus persönlicher Therapie für Regisseur und Drehbuchautor Lars von Trier und gewalttätiger Konfrontation für die Zuseher. „ANTICHRIST“ ist ein Film mit sehr einfach gehaltener Handlung, aber jeder Menge unterschwelliger Symbolik und einem extrem verstörenden Finale. Den Horrorfan werden wahrscheinlich die Anspielungen auf die Wicca-Mythologie, die mit dem Dämonischen spielende Bildsprache und das heftige Blutvergießen in den letzten zwanzig Minuten ansprechen. Aber jeder wahre Filmfan wird überwältigt sein von der unglaublichen Schönheit der Bilder – der mit dem Oscar ausgezeichnete Kameramann Anthony Dod Mantle hat ganze Arbeit geleistet – und überrascht sein, wie lange der Film in einem nachwirkt.

anticrist09 Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg (die für ihre Leistung in Cannes mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde) dominieren den Film von der ersten bis zur letzten Einstellung als Ehepaar, das am plötzlichen Unfalltod seines kleinen Sohnes zu zerbrechen droht (Lars von Triers Zynismus kommt in der Anfangssequenz, in der man den Buben in Zeitlupe zu Tode stürzen sieht, während die Eltern im Nebenzimmer leidenschaftlichen Sex haben, auf grandiose Weise zum Ausdruck). Dafoe spielt einen Therapeuten, der der traumatischen Situation mit wissenschaftlicher Distanz begegnet und glaubt, seine emotional zerrüttete Frau behandeln zu können. Sie ziehen sich in eine Hütte - mit dem viel sagenden Namen „Eden“ - tief im Wald zurück und beginnen mit einer Reihe therapeutischer Übungen, die nach und nach immer tiefer liegende Bereiche menschlicher Trauer und Verzweiflung offen legen. Schon bald beginnen sich erste persönliche Dämonen zu materialisieren, und der Wald scheint zum Leben zu erwachen.

Mehr über die Handlung zu verraten, wäre eine Schande, aber die Handlung ist in diesem Fall von untergeordneter Bedeutung. Was uns Lars von Trier stattdessen beschert, ist in den Genres Horror und Psycho-Thriller äußerst selten: ein pures Kinoerlebnis. Ihm geht es in erster Linie um das Zusammenfügen von Bild und Ton zu einem alle Sinne überwältigenden Ganzen, um das Erzielen emotionaler Wirkung. Ich kann ihnen versprechen, dass Sie sich kaum um der dürftigen Handlung stören werden, denn sie werden zu sehr in Anspruch genommen sein antichrist03 von den geradezu erschreckenden visuellen Reizen, den an das Unterbewusste appellierenden Geräuschen und der Originalität der dargebotenen Einfälle. Wenn Sie sich ohne Vorbehalte auf „ANTICHRIST“ einlassen und den Film auch nur ansatzweise verstehen, dann ist er wie ein Faustschlag in die Magengrube. Wenn Sie jedoch nicht bereit sind, sich auf das audiovisuelle Spektakel einzulassen, werden Sie vermutlich in den Chor der Kritiker einfallen, die das Werk chauvinistisch, egozentrisch oder schlicht verabscheuungswürdig nennen.

Egal in welchem emotionalen Zustand Sie sich beim Verlassen der Vorstellung befinden mögen, „ANTICHRIST“ ist ganz anders als die übliche Filmkost, die einem heutzutage vorgesetzt wird – ein wunderschöner, bisweilen erschreckender Film über Tod, Trauer und die Absurdität menschlicher Emotionen. Lars von Triers neuestes Werk ist zugleich Tribut an Andrej Tarkowskij und August Strindberg sowie Zeugnis für die geniale Fähigkeit des Regisseurs, seine Darsteller zu außergewöhnlichen Leistungen zu motivieren.

„ANTICHRIST“ ist ein Film, den ich jedem ans Herz lege. Selbst wenn er Ihnen nicht gefallen sollte, werden Sie verblüfft sein und die Bilder lange nicht aus dem Kopf bekommen. Achten sie darauf, dass Sie dieses kontroversielle Meisterwerk ungekürzt zu sehen bekommen.

P.S.: Der Film enthält einige kurze Einstellungen, in denen echter Sex beziehungsweise Genitalien gezeigt werden (für diese Sequenzen wurden Pornodarsteller als Doubles eingesetzt).

Der Beitrag wurde von mir zuerst in leicht geänderter Form auf shvoong veröffentlicht.

 

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