Originaltitel: Shutter Island
Herstellungsland: USA 2010
Regie: Martin Scorsese
Drehbuch: Laeta Kalogridis, basierend auf dem Roman von Dennis Lehane
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Max von Sydow, Michelle Williams, Emily Mortimer, Patricia Clarkson, Ted Levine, Elias Koteas
Spätestens seit „Aviator“ scheint sich Martin Scorsese ganz dem Mainstream-Big-Budget-Kino verschreiben zu haben. Auch sein neuester Film „Shutter Island“ steht ganz in dieser Tradition. Der einst so risikofreudige Regisseur hat sich eines Bestsellers des gerade sehr angesagten Dennis Lehane angenommen und daraus einen hoch theatralischen und phasenweise höchst spannenden Film gemacht. Fans des Romans werden erleichtert sein, dass – nicht zuletzt dank der fast schon zu gewissenhaften Adaption durch Drehbuchautorin Laeta Kalogridis - die äußerst komplizierte Geschichte im Wesentlichen intakt geblieben ist: Im Jahre 1954 begeben sich die U.S. Marshalls Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) und Chuck Aule (Mark Ruffalo) auf eine abgelegene Insel, um zu klären, wie und wohin eine Insassin der dortigen Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verschwunden ist.
Doch die Stimmung auf der Leinwand unterscheidet sich beträchtlich von der des Buches – die Schatten sind dunkler als erwartet, die Gewalt ist grässlicher, das Blut röter. „Shutter Island“ mag von Dennis Lehane erdacht worden sein, aber der Film ist von Anfang bis Ende Martin Scorseses Show. Wenn zum Beispiel ein Charakter sagt „Gott liebt die Gewalt. Warum sonst haben wir so viel davon in uns?“, dann könnte er mit dieser Bemerkung genauso gut auf Scorseses Oeuvre anspielen.
Die Exposition von „Shutter Island“ ist für einen Thriller extrem langatmig und wortreich geraten. Teddy hat eine tragische, komplizierte Vergangenheit: Seine Frau Dolores (Michelle Williams) kam in einem von einem Brandstifter gelegten Feuer ums Leben, er selbst war bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau dabei, wo er Dinge mit ansehen musste, die er nie verwinden konnte. Scorsese macht von Flashbacks und Traumsequenzen Gebrauch, um uns über Teddys Leben ins Bild zu setzen, und einige – wie etwa ein langer Schwenk über die Hinrichtung von Nazisoldaten – zählen zu den stärksten Momenten seiner Karriere.
Leider ist der Rest des Filmes nicht annähernd auf diesem Niveau. „Shutter Island“ wird irgendwann so kompliziert, dass eine der Figuren zu Kreide und Schreibtafel greifen muss, um eine kurze Zusammenfassung zu skizzieren – was darauf zurückzuführen ist, dass ein Werk, bei dem es in erster Linie um die Handlung geht, von einem Regisseur verfilmt wurde, den nahezu ausschließlich die Beobachtung menschlichen Verhaltens interessiert. Martin Scorsese scheint im Unterschied zu „The Departed“, „Good Fellas“ oder „Wie ein wilder Stier“ hier keine emotionale Beziehung zu dem Material zu haben. Stattdessen bedient er sich wie schon in „Cape Fear – Kap der Angst“ der Konventionen des Horror-Genres, erweist einigen seiner Idole Reverenz und erfindet den einen oder anderen neuen Kniff.
Unheimliche Stimmung a la Val Lewton durchzieht „Shutter Island“, dazu kommt ein starker Hitchcock-artiger Unterton (der noch durch wunderschön künstlich wirkende Aufnahmen unterstrichen wird) in Bezug auf die Realitäten, die Menschen mitunter erfinden, wenn sie mit ihrem Leben nicht zurande kommen. Dies ist Leonardo DiCaprios vierte Zusammenarbeit mit Scorsese und in vielerlei Hinsicht die intensivste und anstrengendste, wenn man bedenkt, dass der Schauspieler in die Rolle eines von Selbstzweifeln geplagten und unter seiner Vergangenheit leidenden Mannes schlüpft und das Interesse des Zuschauers aufrechterhalten muss, obwohl man ihn erst ganz zum Schluss wirklich verstehen kann.
DiCaprio, dessen offenherziges Babygesicht im Laufe der Jahre immer reservierter und voller wurde, erschafft hier einen Mann, der wirklich und Mitleid erregend leidet. Er ist seekrank. Er hat Kopfschmerzen. Und er leidet unter Alpträumen, die Ingrid Bergman in „Ich kämpfe um dich“ (Spellbound) jahrelang beschäftigt hätten. Zwar sind die darstellerischen Leistungen durchgehend hervorragend, aber DiCaprio ist eindeutig derjenige, der den Film trägt. Selten war er so überzeugend.
Je mehr Teddy die undurchsichtigen Vorgänge in der Anstalt, die von einem nicht immer kooperativen Arzt (Ben Kingsley) geleitet wird, zu ergründen sucht, desto mehr kommt er zu der Überzeugung, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Warum nur kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Wächter darauf erpicht sind, von ihren Waffen bei jeder sich bietenden Gelegenheit Gebrauch zu machen? Was hat die mysteriöse Nachricht zu bedeuten, die die verschwundene Insassin in ihrer Zelle zurückgelassen hat? Kann es sein, dass das Personal die Insassen für medizinische Experimente missbraucht? Und warum muss mitten in Teddys Ermittlungen ein Hurrikan über die Insel hereinbrechen?
All diese Fragen werden bis zum Ende von „Shutter Island“ mehr oder weniger plausibel beantwortet, lediglich die seltsamen Wetterkapriolen bleiben ein Rätsel. Immerhin bietet der Hurrikan Scorsese die Gelegenheit, etliche Szenen mit Blitzen, Sturm und strömendem Regen wirkungsvoll aufzupeppen. Sie haben mit Sicherheit noch nie eine dunkle und stürmische Nacht wie diese gesehen. Kräftig unterstützt von der Musik, die stark auf dramatische Violinen setzt (Bernard Herrmann lässt grüßen!), die einen ständig fürchten lassen, dass gleich etwas schlimmes passiert, ist „Shutter Island“ auf Hochglanz poliertes Popcorn-Kino, das durchaus seine Berechtigung hat. Natürlich könnte man argumentieren, dass der Film außer Atmosphäre wenig zu bieten hat. Aber was für eine Atmosphäre.
Fazit: Alptraumhafte Bilder, tolle Schauspieler und überraschende Wendungen (bis auf die letzte, die niemanden, der „Angel Heart“ oder „Memento“ kennt, überraschen dürfte) machen noch keinen herausragenden Film, vor allem dann nicht, wenn viel zu viel geredet wird. Dennoch gute Unterhaltung von einem Regisseur, von dem man Besseres gewöhnt ist.
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