Originaltitel: The Blind Side
Herstellungsland: USA 2009
Regie: John Lee Hancock
Drehbuch: John Lee Hancock, basierend auf einem Buch von Michael Lewis
Darsteller: Sandra Bullock, Tim McGraw, Quinton Aaron, Jae Head, Lily Collins, Ray McKinnon, Kim Dickens, Kathy Bates
Der Film mag auf einer wahren Geschichte beruhen, aber „Blind Side – Die große Chance“ bietet zwei Stunden typischen Hollywood-Herz-Schmerz. Einem ziemlich einfältigen farbigen Jugendlichen wird durch die Unterstützung einer wohlhabenden weißen Familie die einmalige Chance auf eine Karriere als Sportler eröffnet. Erzählt wird die Geschichte einer strengen, aber herzensguten Innenausstatterin namens Leigh Anne Touhy (Sandra Bullock), die Michael Oher (Quinton Aaron), einem riesigen, athletischen afroamerikanischen Teenager, anbietet, gemeinsam mit ihrer Familie – zwei Kinder und ein liebender Ehemann (Tim McGraw) - in der Villa der Touhys in Memphis zu leben.
Leigh Anne ist ein wahres Energiebündel, Michael das zunächst widerwillige Objekt ihrer Bemühungen. Aber als sich seine Noten nach und nach verbessern und sogar Aussicht auf ein Football-Stipendium an einer der Top-Universitäten besteht (er ist ein geborener Tackle, also einer der Außenspieler in der so genannten Offensive-Line, die aus fünf Spielern besteht und den Quarterback schützen soll), wird Michael langsam zugänglicher. Aber der Film will uns glauben machen, dass Leigh Anne mehr oder weniger allein für diese Entwicklung verantwortlich ist und angesichts der schwierigen Situation des jungen Mannes über sich hinauswächst. Was ziemlich passend scheint für einen Streifen, der ganz auf Sandra Bullock zugeschnitten ist. Unterhaltsamer als hier war sie noch nie.
In Miniröcken und hautengen Hosen, dazu stark geschminkt, stolziert sie vor der Kamera herum und verdreht allen Männern den Kopf. Sie hat immer das letzte Wort und erinnert bisweilen stark an Erin Brockovich. Ihr Interesse an Michael wirkt in manchen Szenen so, als suche sie ein weiteres Betätigungsfeld für ihre designerischen Ambitionen. „Bei Gott, dieser Ort könnte ein wenig Farbe vertragen“, sagt sie beim Anblick der christlichen Schule, die sich freundlicherweise bereit erklärt, Michael aufzunehmen, der, bis er auf Leigh Anne traf, obdachlos war und sich kaum vernünftig ausdrücken konnte. Die staatlichen Behörden nahmen ihn einst seiner leiblichen Mutter, einer Drogenabhängigen, weg.
Bullocks nüchterne, wohlüberlegte darstellerische Leistung bewahrt „Blind Side – Die große Chance“ häufig davor, in emotionale Marktschreierei abzugleiten. Sie agiert zwar nicht wirklich subtil, aber auch nicht übertrieben. Im Grunde spielt sie hier eine ihrer typischen Komödienrollen, allerdings verfeinert mit einer Prise „Desperate Housewives“. Doch zu sehen, wie Bullock vor Zufriedenheit (Selbstzufriedenheit?) strahlt, weckt unangenehme Erinnerungen an die Szene in „L.A. Crash“, in der sie ihre mexikanische Haushaltshilfe umarmt: Ich liebe Dich, Mensch anderer Hautfarbe. In Leigh Annes Haus schläft Michael zum ersten Mal in einem Bett, und sie ist es auch, die ihm eine echte Chance auf ein College-Football-Stipendium eröffnet. Er wiederum erinnert sie daran, dass ihr riesiger Esstisch dazu dienen kann, mit der Familie woanders zu Abend zu essen als vor den beiden Fernsehgeräten im Wohnzimmer.
Drehbuchautor und Regisseur John Lee Hancock konzentriert sich mehr auf die rührseligen Abschnitte des im Jahre 2006 unter dem Titel „The Blind Side: Evolution of a Game“ erschienenen Buches von Michael Lewis. (Die eine Hälfte des Buches handelt von Michael Oher, die andere von Lawrence Taylors Weg in die NFL.) Das Mitleid der Touhys sowie der Umstand, dass sich eine weiße Gemeinde zusammentut, um einem bedürftigen farbigen Teenager zu helfen, machen die Geschichte zu einer berührenden Zurschaustellung menschlicher Güte. (Sogar Kathy Bates ist mit von der Partie als Hauslehrerin.)
Hancock bemüht sich redlich. Der Regisseur übernimmt den Erzählbogen von Lewis´ Buch und äußerst hin und wieder sogar leise Zweifel an den wahren Beweggründen der Weißen, indem er andeutet, dass Zynismus, Eigenwerbung, aber auch (un)bewußte Schuldgefühle eine Rolle spielen könnten. Leider werden - ob gewollt oder ungewollt, sei dahingestellt - in manchen Szenen von "Blind Side - Die große Chance" allzu bekannte Vorurteile gegenüber farbigen jungen Männern nicht nur übernomen, sondern bestätigt. Und er scheint die Befürchtung des Zuschauers vorwegzunehmen, dass Michael, gütig und friedfertig wie er ist, viel zu wenig eigene Gedanken und Wünsche hat. Oher spielt jetzt für die Baltimore Ravens, und man stellt sich unwillkürlich die Frage, was er darüber denkt, dass ihm so wenig Verdienst am eigenen Erfolg zugebilligt wird.
Kommerzielle amerikanische Filme scheinen sehr interessiert an Geschichten über junge farbige Männer, die von freundlichen weißen Menschen beziehungsweise vom Sport vor Gott weiß was bewahrt werden. In diesem Fall spielen beide Faktoren mit. Diese Art „Doppeljackpot“ kommt im richtigen Leben bisweilen vor. Aber es ist typische Massenware aus Hollywood, wo starke, liebenswürdige farbige Männer manchmal Segen und Bedrohung zugleich sind (man denke nur an „The Green Mile“). Ohers Leben soll uns dazu verhelfen, uns wohl zu fühlen, und über weite Strecken schafft es das auch. Aber wie wohl wir uns angesichts dieser Geschichte wirklich fühlen, hängt davon ab, in welchem Maß wir bereit sind, über Art und Weise der Erzählung hinwegzusehen.
Fazit: Ein typischer Wohlfühlfilm Marke Hollywood, das mitunter in Klischees abgleitet, aber über weite Strecken gute Unterhaltung bietet. Allein schon Sandra Bullocks Leistung ist den Preis der Eintrittskarte wert, ob sie dafür auch den Oscar verdient hat, sei dahingestellt.
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